36. Jahrgang | Jahr 2010 | Heft 1
zurückMiszelle: Seite 61–81
„In jeder Krise wird nach Schuldigen gesucht, nach Sündenböcken. Auch in der Weltwirtschaftskrise von 1929 wollte niemand an einen anonymen Systemfehler glauben. Damals hat es in Deutschland die Juden getroffen, heute sind es die Manager. Als Volkswirt sehe ich stattdessen falsche Anreize und fehlende Regeln.“ So ahistorisch, provokant und überzogen dieser Vergleich von Hans-Werner Sinn fraglos war,1 so diskutabel ist er doch in seinem Kern: Denn jede Wirtschaftskrise bringt ihre eigene Sündenbock-Diskussion hervor, gleichsam als Versuch, Krisenursachen zu personalisieren. Es mag der menschlichen Natur entsprechen, Krisen ein Gesicht geben zu wollen, wohl weil sich derart die Komplexität anonymer Markttransaktionen rationaler Akteure reduzieren lässt. Eine solche Personalisierung ist einerseits nachvollziehbar, weil sich in jeder Bankenkrise auch individuelles Fehlverhalten nachweisen lässt, doch andererseits geht eine Stigmatisierung ganzer Akteursgruppen bei genauerer Betrachtung tatsächlich am Kern der Sache vorbei, da Bankiers und Bankmanager als (angestellte) Unternehmer Opportunisten qua Profession sind und auf Anreize in Märkten reagieren, um den eigenen Nutzen zu optimieren. Sie handeln als Akteure rational, und ein solches, individualistisches Handeln ist als Grundlage aller kapitalistischen Ordnungen generell akzeptiert.2 In der Regel – so es sich nicht um offensichtlich gesetzwidriges Vorgehen handelt – folgen die Akteure auch im Vorfeld von Krisen den Chancen, die ihnen der Markt bietet. [...]